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10 Jahre Garten des Gedenkens – 10 Jahre Zettelkasten

Als Künstler, der sich eher mit temporären und sehr direkt ortsspezifischen Projekten zu Wort meldet, war die Gestaltung der Gedenkstätte am Platz der ehemaligen Synagoge eine besondere Herausforderung. Gedenkstätte, das ist Mahnung und Erinnerung, für gewöhnlich skulptural dauerhaft in Stein oder Bronze gefasst, damit die ewige Gültigkeit des schrecklichen Geschehnisses nicht in Vergessenheit geraten möge. 

Ist es möglich, mit etwas anderen künstlerischen Werkzeugen eine dauerhafte Auseinandersetzung zu schaffen? 

Meine erprobten Werkzeuge kommen zwar aus dem Bildhauerischen, nehmen aber Raum als gelebten Raum wahr und ernst, in dem sie auf kommunikative Art eben die Nutzer*innen dieses Ortes hören und ihnen eine Stimme geben.

Es war nicht Ziel des künstlerischen Teams, die Lücke, die in der Reichspogromnacht gerissen wurde, gestalterisch zu füllen, sondern sie sichtbar zu machen und immer wieder zu Wort kommen zu lassen. Wir suchten nach einer Möglichkeit, einen stetigen Ort der Erinnerung zu formulieren, der in ständiger Veränderung alljährlich zur erneuten Kommunikation zwischen Stadtgesellschaft und diesem Ort auffordert.

Es war nicht einfach, die Beteiligten für eine Idee zu gewinnen, die es so zuvor noch nicht gab. Aber im Laufe der Zeit wurden die Zettelkästen mehr und mehr angenommen und das Ritual der alljährlichen Neubestückung durch unterschiedliche Gruppen der Marburger Bürgerschaft zum Bestandteil der Gedenkfeiern.

Mit der historischen Katastrophe im Hintergrund beginnt die Stadtgesellschaft, miteinander zu reden. Und das scheint mir das Wichtigste in schwierigen und gespaltenen Zeiten: dass wir ins Gespräch kommen und im Gespräch bleiben. Nicht einfach, viel Arbeit immer wieder und wieder. So wie die alljährliche Bestückung der Kästen immer wieder die Anstrengung einfordert, erneut Menschen ins Gespräch zu bringen, um auf der Basis der schrecklichen Geschehnisse Anfang November 1938 über unser Zusammenleben, über die Zerbrechlichkeit unserer demokratischen Werte zu sprechen.

– Oliver Gather

 

Die Zitate 2022

Nachdem Zeitzeug*innen, Theolog*innen, Schüler*innen, die freiwillige Feuerwehr und viele anderen Akteuren der Marburger Stadtgesellschaft in den Zettelkästen zu Wort gekommen sind, ziehen Oliver Gather und Krischan Ahlborn in diesem Jahr ein Resümee. Ist es gelungen, gleichzeitig einen Ort des Gedenkens und einen Platz, an dem die Marburger gern verweilen, zu schaffen? Konnten die Zettelkästen einen Dialog über den Ort und seine Geschichte anregen? Kurz, ist der Garten des Gedenkens von einer Leerstelle zu einem vitalen, selbstverständlichen und wichtigen Teil Marburgs geworden?

Dazu haben wir Menschen befragt, die mit unterschiedlichen Perspektiven auf diesen Ort schauen. Hier ein kurzer Einblick in die Inhalte der Gespräche:

Die Jüdische Gemeinde Marburg

Welches Verhältnis haben Sie zum Garten des Gedenkens, dem Ort der ehemaligen Synagoge? Ein Ort, der von Ihren Mitbürger*innen zerstört und erst im Jahre 2002 von der Universität Marburg an Sie zurückgegeben wurde. Ist es heute ein jüdischer Ort, ein Ort deutschen Gedenkens oder beides? Darüber hinaus ging es im Gespräch mit der Jüdischen Gemeinde darum, was sich in den 10 Jahren seit der Eröffnung der Gedenkstätte verändert hat. Fühlen Sie sich in Marburg als deutsche Juden sicher und als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft?

Obwohl der Entwurf des Garten des Gedenkens mit den Zettelkästen damals in der Gemeinde nicht unumstritten war, ist sie heute sehr zufrieden mit dem Gedenkort. Er sei das geworden, worauf sie gehofft hatte: ein lebendiger Ort, an dem sich die Marburger*innen gerne aufhalten. Mit den Zettelkästen sei es gelungen, über die 10 Jahre eine rege Auseinandersetzung verschiedenster Gruppen der Marburger Stadtgesellschaft mit der Geschichte des Platzes und dem jüdischen Leben in Deutschland zu gestalten.

Obwohl das Problem des Antisemitismus in Deutschland – angesichts von Vorfällen wie dem Anschlag von Halle – in der letzten Dekade wieder deutlich sichtbarer geworden ist, ist dies in Marburg so kaum spürbar.
Problematisch sind da eher die von Seite des Innenministeriums geplanten Sicherheitsmaßnahmen, welche die Synagoge zu einer „Festung“ machen sollen. Offen bleibt, inwieweit sich das mit der Idee eines offenen Ortes für alle Marburger verträgt. Auf Dauer problematisch für den Bestand der Gemeinde ist die Altersentwicklung der Mitglieder. Schon heute ist es nicht selbstverständlich, dass die für eine Durchführung des Gottesdienstes notwendigen 10 jüdischen Männer anwesend sind.

„Also wir hatten halt vor zehn Jahren noch sehr viel mehr aktive Gemeindemitglieder, die jetzt aufgrund ihres Alters und ihrer Gesundheit häufig gar nicht mehr zu uns kommen in die Gemeinde. Und wir kämpfen bei jedem Gottesdienst um die zehn Männer, einen Minjan. Das hat sich für uns wirklich dramatisch verändert. Das Bestehen der Gemeinde ist dadurch schon bedroht, also auf die längere Sicht.“

„Vor zehn Jahren haben wir eigentlich nie daran gedacht. Aber jetzt und heute? Da muss man immer wieder zurückdenken, dass doch wieder so etwas passieren kann gegen Juden oder gegen andere. Also von daher werden uns da die Themen nicht ausgehen.“

 

Dr. Susanne Urban

Die Historikerin Dr. Susanne Urban ist mehr als qualifiziert, den Garten des Gedenkens aus Sicht der Gedenkkultur zu beurteilen. Sie hat – um nur ein paar Stationen ihrer Laufbahn zu erwähnen – in jüdischen Studien promoviert, am pädagogischen Institut von Yad Vashem gearbeitet, war Leiterin der Abteilung Forschung und Bildung des Arolsen Archives und hat als Geschäftsführerin des „SchUM Städte Speyer, Worms, Mainz e.V.“ erreicht, dass diese Orte jüdischer Kultur 2021 zum UNESCO Weltkulturerbe erklärt wurden. Heute leitet sie die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus an der Universität Marburg.

Ihrer Einschätzung nach ist es dem Garten des Gedenkens gelungen, sensibel und spezifisch auf den Ort einzugehen. Im Gegensatz zu dem schlichten Gedenkstein, der 1963 errichtet wurde, würdige der Entwurf sowohl die Leerstelle, die durch die Zerstörung der Synagoge entstanden ist, als auch die Tatsache, dass es sich nicht nur um ein Gotteshaus, sondern auch um einen sozialen Ort gehandelt hat. Sie würde sich wünschen, dass der Ort mehr über die Menschen erzählt, die mit ihm verbunden waren. So zum Beispiel digitale Medien zu nutzen und den Platz mit Bildern, Biographien und Geschichten zu vernetzen.
Sie kritisiert, dass die aktuelle Gedenkkultur zu statisch ist und sich oft auf ritualisierte Floskeln beschränkt. So sei diese nicht in der Lage, wirksam auf Tendenzen zu reagieren, die versuchen die Shoah zu relativieren, was besonders in Hinsicht darauf, dass wir in naher Zukunft ohne die Stimmen der Zeitzeugen auskommen müssen, wichtig sei.

„Ich empfinde es als richtig und gelungen, diesen Raum physisch nicht wiedererstehen zu lassen, sondern diesen Raum leer zu lassen und zu zeigen, hier ist eine Leerstelle. An diesem Ort hier gibt es jetzt keine Gemeinde mehr. Also nicht zu versuchen, das irgendwie wieder zu einem jüdischen Ort zu machen, sondern zu einem Gedenkort an einen ehemaligen jüdischen Ort.“

„Ich habe mich dann mit meinem Lebensgefährten über die Zitate unterhalten. Ich glaube, es wäre wichtig, wenn da Zitate drin wären, die auch mal mit einem Fragezeichen enden würden… und wenn Menschen dann überlegen „Okay, was geht mir eigentlich im Kopf rum? Was will ich eigentlich erinnern? Wie möchte ich gedenken?“

„Was hier stehen sollte? Eigentlich etwas, was nicht von mir ist, sondern von Hillel dem Älteren: „Wenn ich nicht für mich bin, wer bin ich? Und bin ich nur für mich? Wer bin ich? Und wenn nicht jetzt? Wann dann?“ Das ist schön!“

 

Zvi & Eli Gimmon

Die Söhne eines Marburger Juden, der 1934 aus seiner Heimatstadt vertrieben wurde, gehören zu den Menschen mit einer biographischen Verbindung zur zerstörten Synagoge, die wir im Vorfeld der Neugestaltung im Rahmen einer Recherchereise nach Israel schon einmal 2002 befragt hatten.

Für sie liegt der Wert der Gedenkstätte darin, zu verdeutlichen, welche Bedeutung die jüdische Gemeinde mit ihrer über 700-jährigen Geschichte für Marburg hat. Sie würden sich wünschen, dass dort mehr über die Menschen zu erfahren ist, die das Gesicht der Stadt geprägt haben. Ihnen ist wichtig, das Gedenken an das, was in der Shoah zerstört wurde, wach zu halten.

„Unser Vater war immer sehr stolz auf Marburg… in einer solchen Kulturstadt zu leben, einer Universitätstadt! Nach Palästina zu gehen war für ihn ein echter Kulturschock, denn im Vergleich war es damals so unterentwickelt.
Marburg war ein wichtiger Teil seines Lebens, wie auch die Deutsche Sprache. Es hat viele Jahre gedauert, bis er ähnlich gut Hebräisch sprechen konnte.

Es waren seine Nachbarn, die unseren Vater aus Deutschland vertrieben haben!“

„Ohne die Gedenkstätte wüssten die meisten gar nicht, dass es den Platz je gegeben hat… Aber da es jetzt wieder einen Ort gibt, ist es für Menschen viel einfacher, ihn wahrzunehmen, ihn zu berühren, ein Teil davon zu sein.“

„Ich glaube, in den nächsten 50 Jahren wird die Erinnerung an den Krieg und die Shoah noch wichtiger werden als es heute schon ist… weil dann keiner mehr am Leben ist, um diese Geschichte zu erzählen… Deshalb ist es so wichtig Orte wie diesen zu haben… Orte des Gedenkens.“

 

Jürgen Rausch & Monika Bunk

Um das Bild abzurunden, haben wir auch Menschen befragt, die an der Realisierung des Garten des Gedenkens beteiligt waren. Jürgen Rausch, der damalige Stadtbaudirektor und Monika Bunk, die als damalige zweite Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Mitglied der Jury war und heute im Rahmen ihrer Tätigkeit für den Fachdienst Kultur das Projekt Zettelkästen am Gedenkort betreut. Sie betonte, sie erachte es für gelungen, dass der Ort sich nicht auf ein historisierendes Gedenken beschränke, sondern Architektur und Zettelkästen einen lebendigen Ort geschaffen haben, der auch einen Austausch mit und über das heutige jüdische Leben in Marburg ermöglicht.

© Thorsten Richter

„Ich finde, in der Erinnerung kommt oft das jüdische Leben zu kurz und es wird eher über tote Juden geredet, als über lebendige. Wie hat denn das jüdisches Leben in Marburg in der Vergangenheit abgesehen? Das ist ein Ort, wo das für meine Begriffe gut zusammenkommt.“

Herr Rausch bemerkte, dass der Garten des Gedenkens durch seine Architektur sowohl in seiner Funktion als öffentlicher Platz, als auch als Gedenkort gut funktioniert. Darüber hinaus ist er der Meinung, dass die Einbindung der historischen Baustruktur wie die Mikwe, die Stadtmauer, aber auch der ablesbare Grundriss der Synagoge Funktion und Bedeutung des Ortes physisch begreifbar macht.

© Thorsten Richter

„Es wäre schön, mehr über die Menschen zu erzählen. Was sie in diesem Gebäude gemacht haben und was mit ihnen geschehen ist. Vielleicht würde das auch in die Zettelkästen reinpassen.“