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Gabriel Goldschmidt

Jerusalem 2012

Mein Name ist Gabriel Goldschmidt. Ich wohne im Altenheim Beit Barth, in Jerusalem, Israel. Es ist so: Ich kann sagen, ich bin Marburger und nicht Marburger. Und warum sage ich das? Ich bin als kleiner Junge in Marburg aufgewachsen und habe auch noch ein paar Erinnerungen, leider nicht so viele. Weil ich ein kleiner Junge war und dann in Hamburg gelebt habe. 1939 kam ich nach England, leider ohne meine Eltern. Meine Eltern sind in Auschwitz umgekommen, auch meines Vaters Vater, der damals schon in Holland war. Aber immer, wenn ich nach Marburg gekommen bin, jetzt, ein paar Mal schon auf Besuch, habe ich nur feine, sehr feine Erinnerungen.

In Marburg, an was ich mich ganz gut erinnere: Den Weg runter …  am Rathaus vorbei und dann die Stufen,  ganz runter zur Universitätsstraße. Und dann erinnere ich noch gut, links runter war die Synagoge.

Als siebenjähriger Junge erinnere ich mich, wie mein Vater zum Gottesdienst geht, meine Mutter ist ein bisschen mit uns nachgegangen, und wir haben meinen Vater abgeholt. Das war schon eine eindrucksvolle Synagoge!

Leben im Nationalsozialismus

Da erinnert man sich an so was, ja … Wie ich den  ersten Zahn verloren habe weil ein frecher Nazijunge mich geschlagen hat. Warum? Weil ich auf der Straße spazieren gegangen bin, von der Schule nach Haus gekommen bin? … Muss man einen Jungen schlagen, den Sie gar nicht kennen? Ich meine, bei allem Respekt, ich meine, wenn heute Ihre Kinder auf die Straße  gehen, dass ihnen der nächste Bengel einfach so ‘nen Zahn ausschlägt.

Oder: Warum habe ich nie schwimmen gelernt? Juden machen ein Bad schmutzig.  All diese Sachen waren streng verboten für uns. An solche Sachen erinnert man sich leider zu viel.  Also, ich kann es nicht vergessen.
Ich hätte gerne schwimmen gelernt. Meine Enkelkinder, sie leben in Haifa , sie gehen die ganze Zeit an die See. Ich kann ich nur ein bisschen rein mit den Füßen, aber nicht zu tief.

Draußen lagen die verbrannten Bücher und so weiter. Die Synagoge [in Hamburg] hat man nicht gleich abgerissen, das ist später erst abgerissen worden. Und wir sind in die Schule gegangen, da hat uns der Lehrer gleich gesagt: “Alle gehen sofort nach Hause, nicht aufhalten, nicht mit ‘nem Freund gehen, den schnellsten Weg nach Hause!” Und dann sind Lehrer zurück gekommen, auf einmal hat ein Lehrer keinen Bart mehr gehabt und eine Glatze. Also so etwas kann man nicht vergessen. Und alle Fensterscheiben wurden zertrümmert. Meine Mutter ist noch rausgegangen, um Freunde von uns zu suchen …

Ich bin in England aufgewachsen. Ich bin mit elf Jahren von Deutschland weg. Zum Glück war die jüngste Schwester meiner Mutter mit einem englischen Juden verheiratet. Und dadurch, dass meine Großmutter mütterlicherseits auch in England lebte hab ich’s viel leichter gehabt, als  viele andere Kinder, die mit dem Kindertransport rausgekommen sind.

Anfang 1940 hat meinen Eltern nur ein Durchreisevisa  gefehlt … das haben sie nicht bekommen. Das ist ein Grund, warum meine Eltern umgebracht worden sind. Das tut dann irgendwie… das tut dann einem immer noch weh.

Aber ich will nicht zu viel darüber reden, weil es  mir weh tut. Es ist eben so, dass unsere Generation ein schweres Leben gehabt hat. Wir müssen nur alles tun, um es besser zu machen. Und umso stärker man daran arbeitet, umso besser.

Deutschland nach 1945

Das erste Mal, dass ich nach Deutschland gefahren bin, war 1979. Da hat man mich gefragt, ob ich Hamburg besuchen möchte, Hamburg noch einmal sehen und auch die Gräber meiner Großeltern besuchen möchte. Mein Urgroßvater war ja Oberrabbiner in Altona, noch vor Oberrabbiner Carlebach, der der letzte Rabbiner in Hamburg war.

Und man hat mir eine Karte geschickt, um mit der Lufthansa zu fliegen. Der erste Gedanke im Flugzeug war: Woher weiß ich, dass der Pilot nicht London bombardiert hat, zum Beispiel. Und dieses Mädel, das mir das Essen gebracht hat: Woher weißt du, ob die nicht auch in der Nazi-Partei war, und dabei war, mitzuhelfen, die Eltern zu ermorden und solche Sachen. Das war mein erster Gedanke, ich habe aber nachher nie mehr diese Gedanken gehabt.

Ich bin drei- oder viermal im Jahr in Deutschland gewesen, im Ganzen ein paar Jahre, um dort auch mit Schülern zu sprechen, und auf Synagogen aufzupassen und Friedhöfe und so weiter, und ich habe nur zweimal über die ganzen Jahre richtigen Antisemitismus erlebt. Und das spricht für sich selber oder? Ich meine, man hat mich überall sehr nett angenommen und ist mir auch sehr behilflich gewesen.

Ich glaube, es ist auch sehr wichtig, dass heute die jungen Menschen – deswegen bin ich auch viel nach Deutschland gekommen – dass sie über diese Sachen heute noch etwas lernen, weil das war vor dreißig, vierzig Jahren nicht. Ich weiß nicht, ob Sie überhaupt davon viel gelernt haben in der Schule, aber heute wird sehr viel davon gesprochen.