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Yoram Jacobson

Modi’in, Israel, 2012

Wer bin ich eigentlich? Also ich bin Yoram Jacobson, Sohn von Margarete Jacobson, die im Jahre ’39 aus  Marburg ausgewandert ist. Nach Israel, damals noch Palästina, im letzten Moment, also im letzten Schiff, das von den Engländern Erlaubnis bekommen hat, nach Haifa zu kommen. Das war kurz vor Kriegsanfang. Ich habe durch meine Eltern einetiefe Beziehung zu Deutschland, aber eine sehr ambivalente.

Der Nationalsozialismus

Meine Großmutter ist im Jahre ’39 gestorben, zu ihrem großen Glück. Sie hat also nichts  von den schrecklichen Sachen erlebt, die später passierten. Mein Großvater blieb noch  ein Jahr oder zwei Jahre im Haus, Wettergasse 4, dann wurde er gezwungen, das Haus zu verlassen. Das Haus wurde arisiert, und er kam zu einem Judenhaus und zu noch einem Judenhaus und zu noch einem Judenhaus, bis man ihn nach Theresienstadt deportiert hat und dort ist er gestorben.

Ja, ich weiß alles. Mein Vater war sogar in einem Konzentrationslager, also in Buchenwald nach der Kristallnacht, ich glaube drei Wochen. Man hat damals alle jüdischen Männer von einem bestimmten Alter ab, also keine Kinder,  nach Buchenwald, auch nach  Dachau, und andere Orte geschickt. Und dort hat man die Menschen geprügelt, manchmal auch getötet. Mein Vater hat es gesehen, hat es erzählt. Im Grunde genommen war es damals noch keine Vernichtung als Programm, aber das Ziel war klar, den Leuten zu sagen: Verlasst Deutschland so schnell wie möglich, also sofort! Und so war es auch, viele haben es nicht geschafft.  Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, der ein sehr erfolgreicher Rechtsanwalt in Berlin war, hat seine Arbeit verloren im Jahre ’33, als Hitler an die Macht kam. Und ihm war es klar, sofort Deutschland zu verlassen, und nach Palästina auszuwandern. Er war also schon hier. Er hatte die Möglichkeit gehabt, für meine Eltern Zertifikate zu besorgen. Und so haben sie das Glück gehabt, nach Palästina auszuwandern.

Marburg

Als ich zum ersten Mal nach Marburg kam, habe ich die Stadt gekannt, als ob ich dort jahrelang gelebt hätte. Unser Haus war ein Haus, in dem man viel gesprochen hat. In vielen Familien wurde geschwiegen, die Eltern haben nichts erzählt, über nichts gesprochen. Bei uns hat man gesprochen. Und ich hab auch Marburg und auch Halberstadt sehr gut gekannt, obwohl ich noch nie dort war, von den vielen Erzählungen.
Meine Mutter wollte nie mehr nach Deutschland zurück. Es kam nicht in Frage. Ich hab sie öfter gebeten, mit mir nach Deutschland zu fahren. Aber das kam nicht in Frage, sie wollte es sogar nicht einmal hören. Aber doch habe ich sehr gut fühlen können, dass sie eine innere starke Beziehung zu Marburg gehabt hat. Wie gesagt, ich habe Marburg  gekannt, als ob ich dort gelebt hätte. Keiner musste mir erklären, wohin, oder wo die verschiedenen Sachen sind. Ich wusste es genau.

Marburg, Halberstadt und ich würde sogar sagen Deutschland spielt eine ziemlich große Rolle. Es ist schwer für mich so was zu sagen, aber irgendwie: eine Art Heimat.

Ich gehöre nicht zu Deutschland. In diesem Sinne ist es keine Heimat, aber ich komme von dort … dort bin ich sozusagen aufgewachsen. Nicht nur, dass ich Deutschland gut kenne, ich kenne das Deutsche … ich kenn mich aus, ich verstehe die Ausdrücke sehr schnell, typische deutsche Ausdrücke, oder nein, nicht Ausdrücke … wie sagt man es auf Deutsch? Die Mimik.

Ich hab auch mit meinem Vater Deutsch gesprochen, aber mein Vater konnte hervorragendes Hebräisch. Meine Mutter konnte kein Wort Hebräisch, sie hat es nie gelernt. Kennen Sie den Ausdruck “Jeckes”  [Deutsche Einwanderer in Israel]? Also so, wie viele Jeckes in Israel, hat  meine Mutter hier über 60 Jahre gelebt, aber konnte kein Hebräisch, konnte nicht mit den Enkelkindern sprechen. Das war ziemlich traurig, aber … Sie hat es nie gelernt. Ich hab mit ihr nur Deutsch gesprochen. Und auch durch meine akademische Arbeit hab ich viel Kontakt mit der deutschen Sprache, und dadurch spreche ich ziemlich gut Deutsch.

Deutschland

Ich bin Deutschland und den Deutschen gegenüber sehr ambivalent. Das hat sich nie geändert. Wir haben 2006 ein halbes Jahr in Berlin gelebt, als ein Sabbatjahr. Und jeden Tag habe ich das gefühlt, also diese  Ambivalenz, diese … zwei Aspekte. Zum einen fühle ich mich sehr nah, kenne es, gehöre dazu, bin Teil davon. Zum anderen kann ich nicht ertragen.

Wir haben öfter Leute kennengelernt und kamen ins Gespräch und wir wurden eingeladen. Ich hab immer diese zwei Aspekte gefühlt,  diesen inneren Riss sozusagen. Von der einen Seite wurde ich angezogen, und hab mich als ein Teil davon gefühlt, von der anderen Seite her konnte ich es nicht ertragen, diese Mimik, wie die deutsche Sprache gesprochen wird,  die verschiedenen Ausdrücke, die ich nur zum Teil  kenne, weil die Sprache sich doch geändert hat, also … Meine Sprache ist steckengeblieben im Jahre ’39. Das war die Sprache meiner Eltern.

Ich weiß nicht, was damals war und wie sich damals  die Leute ausgedrückt haben, aber auf alle Fälle … das ist ungefähr dieselbe Sprache, dasselbe Wesen, bis heute noch, obwohl Deutschland sich zweifellos geändert hat. Wir haben in Berlin gelebt, in Ostberlin, uns gegenüber war ein Naziclub.

Wir haben viele schreckliche Erlebnisse gehabt in den Straßen, in der Untergrundbahn. Überall haben wir immer wieder erfahren, diesen Hass gegen Juden, harte Ausdrücke. Öfter wollte ich darauf reagieren, aber meine Frau hat mich immer zurückgehalten. Das kann doch auch gefährlich werden. Ja, also das ist geblieben. Diese Ambivalenz ist nie verschwunden, hat sich nie geändert. Zum Beispiel, ich hab das Recht gehabt, einen deutschen Pass zu bekommen. Ich hab das nie gewollt, aber meine Kinder wollten es. Und dann hat sich herausgestellt, dass sie keinen Pass von der deutschen Botschaft hier in Tel Aviv bekommen können, wenn ich ihn nicht vorher habe. Also ich muss den Pass haben, und dann können sie auch ihren Pass bekommen. Es ist mir sehr schwer gefallen, diesen Pass zu beantragen. Also ich wollte ihn gar nicht haben, er liegt irgendwo im Schrank. Ich benutze ihn überhaupt nicht.

Ich habe eine Frau gekannt, die als eine junge Beamtin zwanzig Kilometer entfernt von Auschwitz gearbeitet hat in der deutschen Armee. Sie hat mir offen gesagt: Wir wussten genau, was sich dort abspielt, aber keiner hat was gesagt.

Was möchten Sie den Menschen am Ort der ehemaligen Synagoge gerne sagen?

Versuchen zu verstehen, wie es passieren konnte, was dort passierte. Wie so eine Sache sich entwickeln konnte. Und wie konnten Leute da mitmachen?
Für mich ist es klar, vollkommen klar, dass viele Deutsche … ich meine, ich weiß nicht, ob alle … das wird vielleicht zu extrem sein, aber viele … die meisten wussten, zum Teil genau, zum Teil ungefähr, was sich abspielt mit den Juden. Viele in Deutschland haben mir auch erzählt … Ich hab in Marburg zum Beispiel jemanden kennengelernt, der mir erzählte, dass damals, als mein Großvater nach Theresienstadt deportiert wurde, April ’42, ist er mit seinem Vater zur Wanderung gegangen. Und er hat seinen Vater gefragt, als er die vielen Juden, die schon damals sehr wenig waren, im Bahnhof sah: Was ist das eigentlich? Und der Vater hat ihm geantwortet: Guck nicht dahin. Frag nicht, du brauchst nichts zu wissen.

Für mich ist  die Gedenkstätte  nicht wichtig. Für mich persönlich ist es nicht wichtig. Aber für die Leute, die dort leben, für den Deutschen, für den Marburger.

Ich möchte einen Stolperstein am Haus meiner Grosseltern, die sieht man doch sehr oft in Deutschland und überall fast, in Berlin sehr viele …

Ja, ich hab mich einige Male schon gefragt, für wen eigentlich? Nicht für mich, ich brauch es nicht. Aber für die Leute, die dort vorbeigehen. Für den Deutschen, damit sie doch einen Moment stehenbleiben und sich einen Moment überlegen, dass früher dort Juden gelebt haben, und sie wurden von dort weggetrieben, deportiert und getötet.