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Das Grundstück an der Universitätsstrasse

Nachdem schon die polizeilichen Ermittlungen zu den Brandstiftern vom 7. und 9. November 1938 ergebnislos eingestellt worden waren (der Marburger Oberstaatsanwalt Otto Lauts meldete nach Berlin, dass über die Brandursache „nichts“ zu ermitteln sei und verfügte 1940 „Weglegen, Täter nicht ermittelt“), führte auch ein Gerichtsverfahren in der Nachkriegszeit zu keiner Verurteilung.

1960 schlug die Universität Marburg, die sich immer noch als rechtmässiger Besitzer des Grundstücks sah, vor, es in einen Parkplatz umzuwandeln, nachdem die Planung eines Erweiterungsbaus des Landgrafenhauses aus baurechtlichen Gründen gescheitert war. Erst nach der Intervention linker Studentengruppen errichtete sie 1963 einen Gedenkstein.

Die Entwicklung der jüdischen
Gemeinde nach 1945

Nach der Kapitulation Deutschlands kamen etliche Juden, befreit aus Arbeitslagern und KZs, nach Marburg, sodass es zu einer vorübergehenden, scheinbaren Blüte der Jüdischen Gemeinde kam, hielten sich doch zeitweise bis zu 300 Juden hier auf. Durch Auswanderungen, besonders nach Palästina, zählte man jedoch schon 1949 nur noch 70 Personen – eine Zahl, die weiter sank. Ab 1978 organisierte Willy Sage, Gründer und Vorsitzender der Marburger Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, gemeinsam mit dem Magistrat regelmäßige Besucherwochen für ehemalige jüdische Marburger. Nun war hin und wieder ein Gottesdienst mit Minjan (den zum Gottesdienst rituell notwendigen 10 jüdischen Männern) möglich. Dass ein geeigneter Raum zur Feier des Gottesdienstes fehlte, wurde erstmals in dieser Zeit deutlich.
Zu Beginn der 80er Jahre kam der Israeli Amnon Orbach (bis heute Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde) – der Liebe wegen – in die Stadt an der Lahn. Als er sich 1983 entschloss, den Versuch zu machen, in Deutschland zu leben und die deutsche Sprache zu lernen, sah sich der Jerusalemer Geschäftsmann vor folgender Situation: „In Marburg gab es kein Judentum. Ich fand ca. 25 meist ältere Juden, die getrennt von ihrer Religion lebten, ohne einen gemeinsamen Treffpunkt, ohne Leitung, ohne jemanden, der Hebräisch verstand.“

Seither setzte sich der gebürtige Israeli für die Wiederbelebung des Judentums in Marburg ein, sammelte alle Marburger Juden und begann, wieder Gottesdienste abzuhalten und eine Gemeinde aufzubauen. Der damalige Oberbürgermeister Dr. Hanno Drechsler unterstützte dieses Vorhaben sehr, und 1989 stellte die Stadt Marburg der Jüdischen Gemeinde schließlich eigene Räume im Haus Pilgrimstein 25 zur Verfügung.

Entwicklung seit 1989

Im Jahr 1989 gab es in Marburg ungefähr dreißig Juden, und der Raum in der neuen Synagoge war mit seinen 35 Plätzen mehr als ausreichend. Seither hat sich die Situation der Jüdischen Gemeinde beträchtlich geändert. Ihre Mitgliederzahl hat sich mehr als verzehnfacht: auf heute 360 Mitglieder, in der Mehrzahl Einwanderer aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und Osteuropas. Diese Zahl spiegelt aber lediglich die Anzahl der halachischen Juden wider, d.h. derjenigen, die nach dem jüdischen Religionsgesetz als Juden gelten. Wenn man deren nichtjüdische Familienangehörige mitzählt, betreut die Jüdische Gemeinde heute aber insgesamt über 500 Personen. So war das jüdische Gemeindezentrum am Pilgrimstein nicht nur ein Ort religiöser Veranstaltungen, sondern wurde nun auch zum Mittelpunkt für die Integration dieser Zuwanderer.

Ihr Vorsitzender Amnon Orbach setzt sich in besonderem Maße für offene und vorurteilsfreie Begegnungen und Gespräche ein, denn aufeinander zuzugehen und die Vermittlung von Kenntnissen und Wissen über den Anderen sind grundlegende Voraussetzungen für Verständnis und zur Verhütung jeglichen Antisemitismus’ in der Zukunft. Gerade hierin sieht die Jüdische Gemeinde eine ihrer wichtigsten Aufgaben: Menschen, die mehr über jüdischen Glauben und jüdisches Leben erfahren wollen, werden immer eine offene Tür finden. So zählen Schul- und Kindergartenklassen, Gruppen aus Kirchengemeinden, von Parteien und aus der Universität zu den willkommenen Gästen der Gemeinde, um nur wenige zu nennen. Zudem bietet die Jüdische Gemeinde kulturelle Veranstaltungen aus unterschiedlichen Bereichen an, die offen für alle interessierten Marburger sind.

Auf der Suche nach neuen Räumen

In den letzten Jahren erschwerte es die drangvolle Enge am Pilgrimstein, jederzeit ein offenes Haus für interessierte Gäste zu bieten. Und selbst die Gemeindemitglieder fanden bald keine ausreichende Anzahl Sitzplätze für Gottesdienste oder Unterricht.
Die Suche nach neuen Räumen – mit der engagierten und großzügigen Unterstützung durch Oberbürgermeister Dietrich Möller und Bürgermeister Egon Vaupel – führte schließlich in die Liebigstraße 21a. Die ehemalige Zentrale der AOK bietet nicht nur ausreichend Platz, sondern ist auch ein ausgesucht schönes Gebäude für eine künftige sakrale Nutzung. Dank der Finanzierung durch die Stadt Marburg konnte die Gemeinde das Gebäude erwerben, und mit Mitteln des Landes Hessen, der Denkmalschutzbehörden von Stadt und Land sowie Spenden der Mitglieder und Freunde des Fördervereins und der Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit wurde es zu einer prächtigen Synagoge und einem Kulturzentrum ausgebaut.

Monika Bunk,
Vorstand Jüdische Gemeinde Marburg

Die Gedenkstätte an der
Universitätsstraße

Eröffnung der Synagoge für “Displaced Persons” in Marburg 1945 / © The Jewish Federations Of North America