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Zettelkästen 2014

Im ersten Jahr waren in den Zettelkästen Aussagen von Mitgliedern der im Nationalsozialismus zerstörten Jüdischen Gemeinde Marburg und deren Kindern zu lesen. Im folgenden Jahr enthielten die Zettelkästen Texte von Schülerinnen der Elisabethschule Marburg. In diesem Jahr nun beinhalten die Zettelkästen Texte aus der Jüdischen Gemeinde Marburg.

Entstehung

Als wir in der Jüdischen Gemeinde Marburg mit der Aufgabe konfrontiert wurden, die Zettelkästen für das nächste Jahr zu füllen, bildete sich eine kleine Gruppe von Gemeindemitgliedern, die sich zunächst Gedanken darüber machte, mit welchem Konzept wir denn die Zettelkästen in diesem Jahr gerne füllen möchten. Die Gruppe fand relativ schnell den Konsens, dass wir auf jeden Fall einen aktuellen Bezug der Texte möchten: Wir wollen darstellen, was die Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Marburg heute bewegt und von dort aus über die Gedenkstätte eine Brücke in die Vergangenheit schlagen.

Die nächste Frage war, wie man die entsprechenden Texte findet. Dazu hat die Gruppe zwei Wege ausgewählt: Ein Teil der Texte sollten persönliche Aussagen und Gedanken von Gemeindemitgliedern, ein anderer Teil Zitate von bekannten Persönlichkeiten sein, welche treffend die Gedanken zum Ausdruck bringen, die uns aktuell bewegen – oder damit in Zusammenhang stehen.

Auswahl der Texte

In einer kleineren Runde haben wir aus den Vorschlägen einen „Minjan“* ausgewählt, zehn Textvorschläge, die dann tatsächlich in die Zettelkästen eingebracht werden sollen. Die Texte spiegeln ein breites Spektrum von aktuellen Befindlichkeiten wider. Sie geben ein Bild davon, was uns hier und heute im Zusammenhang mit dem „Garten des Gedenkens“ in der Jüdischen Gemeinde Marburg beschäftigt.

Dabei war uns besonders die Spannung zwischen dem, was der „Garten des Gedenkens“ als historischer Ort und Gedenkstätte ausstrahlt, und der aktuellen Stimmung in der Jüdischen Gemeinde heute wichtig. Wir möchten damit zu einem Diskurs über Gedenk- und Denkkultur einladen.

* Ein „Minjan“ ist ein Quorum von zehn Juden, das benötigt wird, um einen vollständigen Gottesdienst in der Synagoge abzuhalten.

 

Jüdische Gemeinde Marburg
Synagoge und Kulturzentrum

 

Nie im Leben hätte ich mir aber
vorgestellt, dass wir hier in
Deutschland überhaupt gegen
Antisemitismus gemeinsam
demonstrieren müssen.

Dr. Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, 14. September 2014

Dieses Zitat von Dieter Graumann spiegelt wider, was viele Gemeindemitglieder – und auch viele andere Juden in Deutschland – empfinden. Es vergeht kein Tag in Deutschland, an dem nicht irgendein Film, eine Dokumentation, eine Präsentation oder Information über die Zeit des Nationalsozialismus gezeigt wird. Wir haben Forschungszentren für Antisemitismus und Rassismus an vielen Universitäten, davon sind die TU Berlin und die Universität Bielefeld nur die prominentesten Beispiele, in Hessen ist beim Landesamt für Verfassungsschutz ein Kompetenzzentrum gegen Rechtsextremismus eingerichtet worden („KOREX“) und so weiter. Mit all diesen Aktivitäten sollte man doch annehmen, dass Antisemitismus zwar nicht verschwindet (das wird immer ein frommer Wunsch bleiben), aber doch eigentlich keine Rolle in der Gesellschaft mehr spielen sollte. Dennoch haben wir in den vergangenen Monaten schlimme antisemitische Auswüchse erleben müssen und sogar Gewalttaten gegen Juden und jüdische Einrichtungen – trotz aller Aufklärung. Und das in einem solchen Ausmaß, dass wir sagen mussten – und es ist erschreckend, dass wir als jüdische Gemeinden das sagen mussten: Es reicht!

Vor Antisemitismus aber ist man nur
noch auf dem Monde sicher.

Hannah Arendt, 26. Dezember 1941

Es gibt religiösen Antisemitismus, der sich gegen das Judentum als Religion richtet. Er ist ein wenig aus der Mode gekommen, aber wir finden ihn immer noch bei Christen genauso wie bei Muslimen. Es gibt sozialen Antisemitismus, der richtet sich gegen den vermeintlichen sozialen Status von Juden in der Gesellschaft. Diesen findet man weit verbreitet in allen Bevölkerungsschichten, mit der Meinung, Juden seien alle reich, Juden seien alle untereinander vernetzt, Juden hätten zu viel Einfluss oder ähnliche Auffassungen. Es gibt rassistischen Antisemitismus. Der richtet sich gegen die Juden als Volk oder „Rasse“, indem er allen Juden negative Eigenschaften zuschreibt, die sie gleichsam „geerbt“ hätten – eben weil sie Juden sind: Habgier, Niedertracht, Verschlagenheit und so weiter. Es gibt politischen Antisemitismus. Der richtet sich gegen Juden als Gemeinschaft innerhalb politischer Gebilde wie Staaten oder Organisationen: Die jüdische „Lobby“ kontrolliert und beeinflusst die Politik, Medien und das Finanzwesen zu ihren Gunsten und so weiter. Die „Protokolle der Weisen von Zion“ lässt grüßen oder die „jüdische Weltverschwörung“. Versatzstücke davon sehen wir in allen politischen Parteien, egal ob Links, Mitte oder Rechts. Es gibt sekundären Antisemitismus, nicht trotz, sondern wegen des Holocaust – den die Juden angeblich ausnutzen, um sich Vorteile zu verschaffen. Und es gibt antizionistischen Antisemitismus, der sich über die Projektion antisemitischer Vorurteile auf den Staat Israel und darüber hinaus auf alle Juden äußert. Wie aktuell ist das Zitat von Hannah Arendt doch heute immer noch!

Die Deutschen werden den Juden
den Holocaust nie verzeihen.

Zvi Rex, 1909-1981

Adorno nannte es den sekundären Antisemitismus, kein Antisemitismus, den es trotz Auschwitz noch immer gibt, sondern Antisemitismus wegen Auschwitz. Wir können das immer wieder erleben: von Schlussstrich-Forderungen, Auschwitz-Keule, Antisemitismus als „Totschlagsargument“, bis hin zum Klassiker: „Ja, wenn die Juden auch immer wieder mit dem Holocaust anfangen, brauchen sie sich nicht zu wundern, wenn sie keiner mag!“ – Und er wird uns auch in Zukunft begleiten!

Ich fühle mich wohl in Marburg,
in meiner Jüdischen Gemeinde
und meiner Stadt.
Aber manchmal beschleicht mich
so ein Gefühl, und ich denke:
„Wie groß ist hier wohl die
‚schweigende Mehrheit‘?“

Gemeindemitglied der Jüdischen Gemeinde Marburg

Wir kennen Marburg als eine offene und tolerante Stadt. Eine schöne Stadt, mit attraktivem Fachwerk in der Oberstadt, mit dem besonderen Flair als Studentenstadt, mit vielen Aktivitäten, aber auch mit einer gewissen Beschaulichkeit. Wir in der Jüdischen Gemeinde fühlen uns in dieser Stadt wohl und akzeptiert.
Aber was ist, wenn die Stimmung mal kippt? Wenn wir uns doch wieder Anfeindungen, Ausgrenzungen oder Aggressionen ausgesetzt sehen? Wie groß wird in Marburg diese „schweigende Mehrheit“ tatsächlich sein, die dann nur zusieht? Wie sehr wären wir dann auf uns allein gestellt? Die Diskussionen der letzten Jahre – Angriffe auf jüdische Traditionen, andauernde Attacken auf Synagogen und Friedhöfe (auch in der Umgebung) und die jüngsten Entwicklungen während des Nahost-Konfliktes – lassen nachdenklich werden.

Wir sind da und wir bleiben.
Auch, wenn jüdische Einrichtungen
immer noch durch die Polizei
geschützt werden müssen.
Auch, wenn es in Deutschland Gebiete
und Stadtviertel gibt, die ich nicht mit
einer Kippah auf dem Kopf betreten würde.
Auch, wenn jeder Fünfte hier latent
antisemitische Haltungen hat.
Wir sind da und wir bleiben.

Gemeindemitglied der Jüdischen Gemeinde Marburg

Hin und wieder fragen uns Besucher nach dem Gottesdienst, warum denn das Polizeiauto vor der Synagoge steht, und ob die Synagoge besonders bewacht wird. Wenn wir dann antworten, dass das tatsächlich so ist, ernten wir verwunderte Blicke. Dann wird einem erst bewusst, wie sehr wir uns schon an diesen Zustand gewöhnt haben. Aber wir bleiben trotzdem. Deutschland ist unser Land, unsere Heimat. Wir hören hier öfter schöne Sonntagsreden von Politikern: „In Deutschland darf es keine No-Go-Areas geben!“. Es gibt sie aber. Die Politik geht darüber dann gerne zur Tagesordnung über, seit vielen Jahren immer die gleichen Reden. Aber wir bleiben trotzdem. Das sind auch unsere Politiker, die wir wählen und abwählen können. Und fest verankert sind in der Volksseele antisemitische Versatzstücke und gedankenlose Sprüche, man höre sich nur einmal an Stammtischen um. Aber wir bleiben, denn wir sind auch ein Teil dieser Volksseele.

Bin ich ein Jude in Deutschland?
Oder ein Deutscher jüdischen Glaubens?
Oder ein deutscher Jude?
Oder ein jüdischer Deutscher?
Eines aber bin ich sicher nicht:
der israelische Botschafter.

Gemeindemitglied der Jüdischen Gemeinde Marburg

Wenn man als Jude in Deutschland lebt, erlebt man ein Gemisch von Identitäten. Was gerade „obenauf“ liegt, wird hauptsächlich dadurch bestimmt, wie man seine Identität definiert und in welcher Situation man sich befindet. Beschäftigt man sich mit den jüdischen Traditionen, mit Gottesdienst oder Gebet, fühlt man sich eher als Jude in Deutschland, im interreligiösen Dialog eher wie ein Deutscher jüdischen Glaubens. In Israel gehört man als deutscher Jude zu den „Jeckes“. Meistens aber fühlt man sich als ganz normaler – jüdischer – Deutscher, wobei das „jüdisch“ eher in den Hintergrund tritt.

Wenn man als Jude in Deutschland lebt, wird man aber auch geradezu reflexartig auf Israel angesprochen. Dazu haben wir zwar eine Meinung und Sympathien, aber wir dürfen dort nicht wählen und haben keinen Einfluss auf die israelische Politik, die viele von uns auch nicht immer gut finden. Die jüdischen Gemeinden in Deutschland und ihre Mitglieder sind nicht die diplomatische Vertretung des Staates Israel.

Wenn Christen Juden vorschreiben
wollen, wie sie sich als Juden zu
verstehen haben und was sie in ihrer
jüdischen Tradition zu tun oder zu
lassen haben, dann ist auch das eine
Form des Antijudaismus.

Präses Nikolaus Schneider, 14. September 2014

Es sind nicht nur die Christen, die uns vorschreiben wollen, wie wir als Juden unsere Tradition zu leben haben. In den Debatten zum Schächten und jüngst zur Beschneidung, aber auch zu vielen anderen Themen wird uns – auch in Marburg – immer wieder vorgeworfen, unsere Traditionen seien anachronistisch, überholt, ungeeignet für eine moderne Gesellschaft. Diese Angriffe passieren aus allen Richtungen, von sogenannten „Humanisten“ über politische bis hin zu kirchlichen Kreisen. Manchmal geschieht Missachtung aber auch ganz unspektakulär, zum Beispiel einfach nur: „Am Samstag könnt ihr doch einmal an unserer Veranstaltung teilnehmen, das ist doch nicht so schlimm.“ – Der Samstag ist Schabbat, und ob es schlimm ist oder nicht, den Schabbat zu verletzen, möchten wir schon gerne selbst entscheiden.

Wer uns Juden angreift, greift am
Ende alle an. Es ist ein Generalangriff
gerade auf die Werte, auf die
wir in Europa so großen Wert legen:
Menschlichkeit, Menschenwürde,
Liberalität und Toleranz. Unsere
Freiheit ist doch auch eure Freiheit!
Wer heute dazu schweigt, wenn
Juden angegriffen werden,
wird morgen selbst betroffen sein.

Dr. Dieter Graumann, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, 14. September 2014

Schon die Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus lehren, dass der Angriff auf die freiheitlichen Werte einer Gesellschaft immer zu einem totalitären System für alle führt.

Wenn ich nicht für mich bin,
wer ist für mich?
Wenn ich nur für mich bin,
was bin ich?
Und wenn nicht jetzt,
wann denn?

Talmud, Sprüche der Väter 1, 14

Dieser „Klassiker“ aus dem Talmud regt – auch über die Jahrhunderte hinweg – immer wieder zum Nachdenken an. Und solche Erfahrungen machen wir immer wieder: Wenn nicht wir Juden für uns sind, ist keiner für uns. Wenn wir einmal nur für uns sind, wird das sofort kritisiert – einmal abgesehen davon, dass es oft auch der jüdischen Ethik widerspricht. Und wenn wir nicht rechtzeitig aktiv werden, werden Themen gerne verschwiegen oder zu spät angegangen.

Hört zu, sie plündern jüdische Geschäfte,
sie werfen Scheiben mit Steinen ein,
sie schlagen Juden. Tausende werden
in Konzentrationslager abtransportiert.
Sie töten Juden, sie hängen sie auf,
jüdisches Blut fließt in den Straßen
der deutschen Städte!
Ich frage euch: Wie kann man so etwas
aus unserem Gedächtnis ausradieren?

Gisela Spier-Cohen aus Momberg, Kreis Marburg, Zeitzeugin der Reichspogromnacht

Alle Reflexion der Situation der Juden in Deutschland geschieht natürlich immer auch vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Schoah und der jüdischen Geschichte. Nie dürfen wir das vergessen!