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Der Garten des Gedenkens

Beim Schlendern durch die Unterstadt Marburgs stößt man unvermittelt auf eine Lücke in der sonst dichten Bebauung. Nur Eingeweihte wissen, dass dies der Ort ist, an dem sich bis zur Nacht des 9. November 1938 die Marburger Synagoge befand.

Seit ihrer Fertigstellung 1897 entwickelte sich die Synagoge schnell zu einem Zentrum des religiösen und kulturellen Lebens der Universitätsstadt. Dies endete jäh mit der Zerstörung des Bauwerks durch das NS-Regime in der Reichspogromnacht. Die bis auf die Grundmauern abgerissene Ruine wurde mit Erde bedeckt und als Grünfläche hergerichtet; seitdem klafft an prominenter Stelle eine unverkennbare Zäsur im Stadtgefüge.

Seit damals wurden verschiedene Nutzungsmöglichkeiten erwogen, aber nicht umgesetzt. Einzig 1963 errichtete die Universität auf Betreiben einer Gruppe linker Studierender einen Gedenkstein auf dem Areal. Außer den jährlichen Gedenkfeiern am 9. November lag der Ort brach. Im Jahre 2002 übereignete die Philipps-Universität das Gelände zurück an die Jüdische Gemeinde.

Nach langer Diskussion über den richtigen Umgang mit dem Areal schrieb die Stadt Marburg in enger Zusammenarbeit mit der Jüdischen Gemeinde Marburg 2009 einen freiraumplanerisch-künstlerischen Wettbewerb aus, aus dem das Düsseldorfer Büro scape Landschaftsarchitekten in Kooperation mit dem Künstlerteam Oliver Gather und Christian Ahlborn als Sieger hervorging.

Die Aufgabe der Planer bestand einerseits darin, eine Gedenkstätte zu konzipieren und zu realisieren. Das Bauwerk soll jedoch nicht nur erinnern und mahnen, sondern andererseits – auf ausdrücklichen Wunsch der jüdischen Gemeinde – auch einen Ort des alltäglichen Lebens, einen attraktiven Freiraum mit Aufenthaltsqualität ausbilden. Der Entwurf begreift die Gedenkstätte als öffentlichen Garten, einen »Garten des Gedenkens«. Es soll ein bedeutungsvoller, emotionaler Ort entstehen, ein Ort, der seine derzeitige Beiläufigkeit verliert. Der Gedenkort will sich nicht verstecken, er dringt in die Stadt und setzt ein unübersehbares Zeichen im steinernen, von Geschwindigkeit geprägten Umfeld.

Der Besucher, der die Universitätsstraße entlanggeht, stößt plötzlich auf eine Aufweitung des Fußweges, einen langgestreckten Platz aus dunklem Basaltpflaster. Ein Foto der ehemaligen Synagoge ist auf die Glasscheiben der benachbarten Bushaltestelle aufgedruckt und gibt einen ersten Hinweis auf die historische Bedeutung dieses Areals. An den Vorplatz schließt eine Grünfläche, ein öffentlicher Garten an. Er ist flächig mit Rosen bepflanzt – im antiken Jerusalem war die Rose die einzige Blume, die innerhalb der Stadtmauern gepflanzt werden durfte. Das Zentrum des Ortes bildet ein skulpturaler Rahmen aus weißem Beton, der wie eine Galerie eine Rasenfläche und einen Baum umschließt. Nach außen zeigt er sich in Gestalt eines Parallelogramms. Nach innen formt der Rahmen indessen ein Quadrat aus, das den ehemaligen Versammlungsraum der Synagoge exakt nachzeichnet. Über eine schmale Treppe wird man auf das Podest geleitet und stößt auf eine Glasplatte im Boden, die einen Blick in das Innere der Erde ermöglicht. Man erkennt, dass sich im Untergrund noch Relikte der Synagoge verbergen: Die Öffnung liegt direkt über der gut erhaltenen Mikwe, die in jüngster Zeit ausgegraben wurde. Die Augen wenden sich nun der quadratischen Rasenfläche zu, welche leicht vertieft das Zentrum der Anlage darstellt. Zwei alte Linden spenden hier Schatten, der Ort strahlt Ruhe aus. Im Gras unter den Bäumen steht der Gedenkstein aus dem Jahr 1963. Ansonsten ist der Ort leer – fast leer, denn in den Rasen sind Glaskästen eingelassen, darin befinden sich Zettel, bedruckt mit großen, klaren Lettern. Man setzt sich auf die Stufe, die der Rahmen zur Rasenfläche aufweist, und beginnt zu lesen …  

Rainer Sachse,
scape Landschaftsarchitekten

Baustelle der Gedenkstätte 2011 / Foto C. Ahlborn

Zettelkasten

„Zettelkasten“ ist der künstlerischeTeil der Neugestaltung des Grundstücks der ehemaligen Synagoge Marburg.

Unser Ausgangspunkt waren die Lücken und Leerstellen, welche die Shoah gerissen hat. Eine dieser Leerstellen ist das Grundstück an der Universitätsstraße und auch der Zustand, in dem sich das Grundstück über lange Jahre befand. Es steht nicht nur für die Zerstörung einer Synagoge, sondern für den Versuch, eine ganze Kultur auszulöschen. Durch die Umgestaltung kehrt das aus der Zeit gefallene Brachgrundstück wieder in die Stadt zurück, und aus einer Lücke kann ein Garten des Gedenkens entstehen.

Im Gegensatz zu einem konventionellen Denkmal, das auf statische und dauerhafte Texte des Gedenkens in Stein oder Bronze zurückgreift, suchen wir eine andere Herausforderung. Wir möchten ein Projekt ins Leben rufen, das eine wechselseitige Kommunikation über den Ort, seine Geschichte und seine Funktion und die Menschen, die damit verbunden sind, einfordert und kontinuierlich fortschreibt. Eine Gedenkstätte also zwischen statischem Denkmal und fortwährender Auseinandersetzung, die versucht, aktiver und lebendiger zu sein als der bloße Verweis auf ein furchtbares historisches Ereignis oder eine in Stein oder Bronze geronnene Geste der Betroffenheit.

Durch 10 ebenerdig in die Grasfläche eingelassene Glaskästen, die sich am Ort des Gebetsraums der Synagoge befinden, wird das Gedenken um den Dialog erweitert.

In ihnen befinden sich 10 Aussagen, die sich um den Ort, seine Geschichte und die  Menschen, die mit ihm verbunden sind und waren, drehen.

Die Aussagen der ersten Bestückung sind das Ergebnis von Gesprächen, die wir mit Mitgliedern der ehemaligen jüdischen Gemeinde von Marburg und deren Kindern in Israel geführt haben.

Dabei ging es uns – 70 Jahre nach den Novemberpogromen – weniger um eine Befragung von Zeitzeugen im Sinne einer oral history als vielmehr um die Perspektiven der Erinnerungskultur nach der Zeitzeugenschaft. In den Gesprächen mit den Menschen, die einen unmittelbaren Bezug zu der ehemaligen Synagoge in Marburg und ihrer Gemeinde haben, wollten wir herausfinden, für wen der Ort eine Bedeutung hat, wem er gehört, was dort eigentlich gesagt und vermittelt werden soll und wofür er in Zukunft stehen könnte.

Die 10 Aussagen sind gleichzeitig Grundlage und Auftakt für einen Diskurs, der sich im nächsten Jahr fortsetzen wird, wenn sich eine andere Personengruppe in Gesprächen mit dem Ort der ehemaligen Synagoge auseinandersetzen wird. Auch diese werden für ein Jahr in den Zettelkästen sichtbar und gleichzeitig auf dieser Internetseite dokumentiert.

 Oliver Gather und Christian Ahlborn

 

Oberbürgermeister
Vaupel: „Aktive Auseinandersetzung“

Ein Denkmal mitten in der Stadt ist ein Gewinn und eine Herausforderung zugleich. Mit dem „Garten des Gedenkens“ auf dem Grundstück der in der Nacht zum 9. November 1938 durch die Nazis zerstörten Synagoge holen wir einen wichtigen Ort jüdischen Geschehens in den Marburger Alltag zurück. Der ansprechend gestaltete Platz lädt zum Verweilen ein und zur Auseinandersetzung mit den historischen Ereignissen, mit der Architektur der zerstörten Synagoge, mit lebendigem jüdischen Leben in unserer Stadt. Der sorgfältig gestaltete Ort lässt Gedenken als aktive Auseinandersetzung zu, die auch junge Menschen einbindet. Dazu trägt auch das Kunstprojekt „Zettelkasten“ bei mit Informationen über den Ort und Freiraum für eigene Fragen. Universitätsstadt Marburg und Jüdische Gemeinde haben mit der Realisierung des Entwurfs des Düsseldorfer Büros scape Landschaftsarchitekten und des Künstlerteams Gather / Ahlborn, der beim ausgelobten Wettbewerb als Sieger hervorging, einen würdigen Ort des Gedenkens und Erinnerns geschaffen und zugleich einen lebendigen Ort der Begegnung mitten in der Stadt.

OB Vaupel bei der Gedenkfeier am 09.11.2011 / Foto C. Ahlborn

Garten des Gedenkens
Ehemalige Synagoge Universitätsstrasse
Marburg

 

 

Amnon Orbach über die
neue Gedenkstätte

Oliver Gather und Christian Ahlborn
über das Projekt Zettelkasten